Jetzt ist er also endlich da: Hamburgs neuer Koalitionsvertrag von SPD und Grünen. Auf 148 Seiten legen die Parteien ihren Fahrplan für die nächsten fünf Jahre fest – auch in der Verkehrspolitik, die weiterhin von Anjes Tjarks (Grüne) verantwortet werden soll.
In dem Dokument stecken einige Überraschungen. Interessant ist vor allem, was nicht erwähnt wird. Einige einst hoch gehandelten Projekte tauchen in dem Papier nun gar nicht mehr auf, andere wurden deutlich zusammengedampft. Und: für die Wiedereinführung einer Straßenbahn haben sich SPD und Grüne zwei Hintertüren offengelassen. Eine Analyse.
Grundsätzliches „Weiter so“
Grundsätzlich steckt im neuen Hamburger Koalitionsvertrag von SPD und Grünen ein verkehrspolitisches „Weiter so“. Die Mobilitätswende soll weiter vorangetrieben, die großen Neubauprojekte fortgeführt werden – vor allem beim Öffentlichen Nahverkehr: Fortführung der neuen U-Bahnlinie U5, Verlängerung der U4 im Süden sowie die S-Bahnlinien S4 nach Bad Oldesloe, S5 nach Kaltenkirchen, S6 von Neugraben nach Osdorf und Digitalisierung der Hamburger S-Bahn. Beim Radverkehr bekennt sich der alte und neue Senat weiterhin zum Bau vieler neuer Radwege.
Allerdings verbirgt sich im Detail auch eine grundsätzliche Neujustierung. Hatten SPD und Grüne im vorherigen Koalitionsvertrag dem ÖPNV, Rad- und Fußverkehr noch eine „besondere Priorität“ im Stadtverkehr, eingeräumt, lautet das neue Credo: „Die Förderung des ÖPNV und des Radverkehrs geht (…) Hand in Hand mit einer besseren Mobilität für (…) den motorisierten Individualverkehr…
12 Antworten auf „Koalitionsvertrag in Hamburg: Etwas weniger Verkehrswende“
Steht im Koalitionsvertrag wirklich nichts zum Thema „Fußverkehr“, z.B. zur noch nicht beschlossen Fußverkehrsstrategie und daraus abgeleiteten Maßnahmenpaketen, oder ist das Thema doch enthalten und nur nicht interessant für NahverkehrHamburg? Da muss ich den Vertrag wohl einmal im Original lesen…
Hallo Herr Henze, dezidierte Ziele zum Fußverkehr sind im Koalitionsvertrag tatsächlich sehr rar. Es gibt nur einen sehr kurzen Abschnitt auf den 148 Seiten dazu. Hier ist er:
„Die allermeisten Wege beginnen und enden zu Fuß. Die Koalitionäre wollen den Fußverkehr deshalb stark fördern, die Sanierung der Wege auf hohem Niveau verstetigen und die Barrierefreiheit dabei verbessern. Wir wollen das Fußgängerleitsystem erneuern und ausbauen, den Fußverkehr noch stärker mit dem ÖPNV verzahnen und dafür insbesondere das Umfeld von Haltestellen attraktiver gestalten. Nachdem wir in der letzten Legislaturperiode praktisch alle sog. Bettelampeln abgebaut haben, wollen wir Fußgänger*innen an für Fußverkehr relevanten Ampeln stärker priorisieren.“
Projekt Verbindungsbahnentlastungstunnel abgesagt?
Der neue rot-grüne Koalitionsvertrag birgt manche Überraschung. Weniger in der generellen Hinwendung zum motorisierten Individualverkehr, das war nach dem SPD-Wahlkampf nicht andres zu erwarten, als vielmehr in dem, was wortreich verklausuliert oder gar nicht gesagt wird. Wichtige Problemprojekte werden schlichtweg überhaupt nicht erwähnt. Kein Wort zum Bau des neuen Fernbahnhofs Diebsteich, wo augenscheinlich der Privatinvestor das Interesse verloren hat, die beiden Hochhaustürme für Büros und ein Hotel und die Bahnhofshalle zu bauen. Kein Wort zum Neubau der Sternbrücke, die nur aufgrund des Aufweitungsverlangens des Senats so monströs ausfällt. Kein Wort, wie wirksam der Überfüllung am Hauptbahnhof begegnet werden kann. Kein Wort zur notwendigen Reaktivierung der Bahnstrecke zwischen Bergedorf und Geesthacht. Und zu aller Überraschung, kein Wort zum Verbindungsbahnentlastungstunnel, der die Innenstadt über mehr als zehn Jahre in eine einzige Großbaustelle verwandeln dürfte. Ist das als Begräbnis zweiter Klasse dieses Megaprojektes zu werten? Das wäre eine realistische Einsicht, welche der in der Vergangenheit gehypten Verkehrsprojekte Nutzen bringen und welche eher das Gegenteil bewirken. So wird auch beim S4-Projekt nur noch von der Anbindung von Rahlstedt an das Hamburger S-Bahnnetz gesprochen, was Sinn macht. Zum bislang geplanten Weiterbau der Strecke nach Bad Oldesloe: Kein Wort. Aussagen zum Weiterbau der U4 über die Elbe nach Wilhelmsburg und Harburg bleiben mehr als vage. Eine S-Bahn-Anbindung von Lurup/Osdorf wird ausdrücklich unter Finanzierungsvorbehalt gestellt, damit de facto abgesagt. Das Hamburger Tabu-Wort „Straßenbahn“ wird im Koalitionsvertrag auffällig vermieden. Dabei ist die Wiedereinführung der Straßenbahn in Hamburg die einzige schnell realisier- und finanzierbare Lösung für überlastete Buslinien und teure U-wie S-Bahnprojekte, die frühestens in 10-20 Jahren fertiggestellt sind – wenn überhaupt. Und wenn dann Projekte wie der unrealistische Neubau einer Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke Hamburg-Hannover sowie der Bau einer Hyperloop-Testrecke als ambitionierte Schritte zum Ausbau des ÖPNV herhalten müssen um Zukunftsfähigkeit zu demonstrieren, kann man nur sagen: ein wenig zukunftsfähiges Programm.
Lieber Herr Jung, man sollte den Vertrag auch lesen bevor man etwas behauptet: „Die
Erweiterung des Hamburger Hauptbahnhofs und der Bau des neuen Fernbahnhofs Altona am
Diebsteich werden vorangetrieben.“ Das ist zwar auch ziemlich Inhaltsleder, aber doch ein Wort zum Diensteich. was die S4 betrifft, macht man nur Aussagen zu den Auswirkungen auf Hamburg. Das macht man bei der S5 genauso, da sagt man auch nur etwas zu Eidelstedt und Schnelsen und nicht zu Quickborn. Das als Absage zum Ausbau über die Landesgrenze hinaus zu sehen, ist falsch.
Ja, es gibt sicher einiges zu kritisieren und unbedingt zu Recht. Wer jedoch echte Fortschritte im Verkehrsbereich sehen will, muss das auch an den Wahlurnen nachdrücklich zum Ausdruck bringen. Eine Partei ist in ihren Verhandlungspositionen immer so stark, wie die Wähler*innen sie machen. Grünen Bashing hilf hier nichts, oder hätte man lieber die cdu als Koalitionspartner haben wollen? Ich sehe in Fehlstellen jedoch auch immer Chancen für die jeweiligen Senator*innen.
Wofür stehen eigentlich heutzutage die Grünen?
Ich meine jetzt außer für Klientelpolitik für die eigene Blase oder Wahlverein für den Verkehrssenator bzw. den Wandsbeker Bezirksamtsleiter zu sein?
Ich persönlich wüsste keinen Grund, grün zu wählen.
Der Vertragstext ist das Eingeständnis, dass die Mehrzahl der Hamburger aus den außenbezirken und der Pendler aus dem Umland in den nächsten 15 Jahre gar nicht ohne Auto auskommen kann und die Verkehrswenderezepte somit untauglich sind, um kurzfristig CO2, Lärm und Stau fühlbar zu reduzieren.
Vor dem Hintergrund des für die nächsten 20 Jahre angekündigten Bau- und Verspätungschaos auf den zu wenigen Bahnstrecken im Umland, den Elbbrücken und im Hauptbahnhof mehreren hunderttausend Pendlern aus dem Umland und vom Stadtrand das Autofahren noch weiter erschweren zu wollen, war und bleibt zum Scheitern verurteilt und würde nur noch denen massenhaft Wähler zuführen, die sich ganz sicher viel weniger für das Klima einsetzen würden.
Rot-Grün hat auf die teuersten und langdauerndsten Konzepte gesetzt. Einzelne Verstärkerzüge aus Harburg oder einzelne Langzüge von Bergedorf, Pop-Up-Busspuren, die frühzeitige Nutzung von U5-Abschnitten mit E-Bussen (und evtl. andere Prioritäten beim Tunnelbau) kam in den Überlegungen offenbar nicht vor.
Beim Hauptbahnhof als Schlüssel zu mehr Regionalverkehr und somit zu eben diesem (nun gescheiterten) Konzept von Verkehrswende wurde seit 17 Jahren ignoriert, dass jede noch so kleine Verbesserung helfen würde! Die Verkehrswende der nächsten zehn Jahre wird jedenfalls nicht von der Schiene gestaltet werden. Aber vielleicht von fahrerlosen PKW, Robotern und Wegbrechen der bisherigen Nachfragespitzen.
Es ist unverständlich, dass die Reaktivierung der Bahnanbindung Geesthacht-Hamburg im Koalitionsvertrag nicht erwähnt wird. Zumal sich beide Fraktionen im Wahlkampf dafür ausgesprochen haben.
Ich hoffe, dass damit nur die Selbstverständlichkeit der Reaktivierung verdeutlicht wird und nicht, dass das Projekt nun in den Hintergrund gerät.
Interessant, dass es Elon Musks Hyperloop in den Koalitionsvertrag geschafft hat. Hätte erwartet, dass er inzwischen politisch verbrannt ist. Zumal der HHLA-Hyperloop auch versandet ist…
Der Auto- oder Blecheimerwahnsinn wird munter weiter betrieben bzw. ausgebaut. Wie befürchtet, geht es bei den GRÜNEN immer mehr um das „Dabeisein“ als eigene Ziele durchsetzen zu wollen. Was mir vor allem fehlt: Der Bund stellt für Infrastrukturprojekte 500 Mrd+ zur Verfügung und das hätte man zum Anlass nehmen können, Planungen für eine Erweiterung der U Bahn von Mümmelmannsberg Richtung Bergedorf ins Auge zu fassen und die Verlängerung einer U-Bahn/Schwebebahn/Stadtbahn Richtung Willhelmsburg bis zur Baureife zu planen. Vollkommen absurd ist es die S-Bahn nach Osdorf zu erwähnen, wo man sich bereits mit Planungskosten von 120 Mio für eine sechsjährige Planung verpflichtet hat. (Aber wahrscheinlich sind diese Gelder im Wesentlichen eine versteckte Subvention für die Deutsche Bahn AG. (Ja, das ist eine Unterstellung).
Ich habe selten so etwas ambitions- und visionsloses gelesen, wie diesen Koalitionsvertrag.
Nach dem Koalitionsvertrag für den Bezirk Hamburg-Wandsbek, der inhaltlich quasi von der FDP allein geschrieben wurde und in dem sich eine zukunftsweisende Verkehrspolitik und grüne Inhalte nur in homöopathischen Dosen wiederfinden, hier nun also der nächste Koalitionsvertrag, in dem die Grünen die politischen Ziele, für die sie angetreten sind, mit großem Schwung ad acta legen, um weiter regieren zu können.
Man muss sich fragen, ob die Grünen generell schlechte Verhandler sind und sich deshalb regelmäßig bei Koalitionsverhandlungen über den Tisch ziehen lassen, oder ob die Grünen so macht-orientiert sind, dass sie zur Not auch noch die ureigensten Ziele und Überzeugungen über Bord kippen, nur um weiter mitregieren zu dürfen.
Die eh schon nicht sehr ambitionierte Verkehrspolitik der letzten Jahre hier in Hamburg wird nun also noch weiter ausgebremst.
Leider ist es genauso gekommen, wie ich befürchtet hatte. Die PKW-Lobby und Besitzstandswahrer, die um jeden Parkplatz und jeden Quadratmeter Straße für sich kämpfen, hat sich durchgesetzt (primär das, was wir in den Bezirken schon hatten, die SPD ist in Hamburg doch sehr konservativ). Und das, obwohl es bereits jetzt eine Diskrepanz zwischen Modal Split und Verkehrsflächen gibt, die objektiv betrachtet unfair ist. Medien wie das Abendblatt oder die BILD-Zeitung, die immer wieder über die doch ach so arg gebeutelten Autofahrer berichten, haben das geschickt immer wieder lanciert. Das Parkplatz-Moratorium ist wirklich schlimm, wird es doch mit Pech auf sehr langer Dauer sinnvolle Umbauten total blockieren.
Es ist wirklich schade, dass es in Hamburg (natürlich nicht so extrem wie in Berlin) wieder in die Vergangenheit geht…