Nach dem UITP-Kongress in Hamburg: Jetzt bloß nicht ausruhen

Futuristische Züge, KI-Haltestellen und selbstfahrende Busse: auf dem UITP-Kongress in Hamburg wurde viel geträumt. Doch manche Ideen gehen an der Realität der Fahrgäste vorbei und hängen anderen Ländern hinterher. Ein Kommentar von NAHVERKEHR HAMBURG-Herausgeber Christian Hinkelmann
Christian Hinkelmann
Der HVV hat auf dem UITP-Kongress eine KI-gesteuerte Bushaltestelle der Zukunft präsentiert.
Der HVV hat auf dem UITP-Kongress eine KI-gesteuerte Bushaltestelle der Zukunft präsentiert.

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Die letzten Gäste sind abgereist, die Messestände verschwunden – der weltgrößte UITP-Nahverkehrskongress in Hamburg gehört der Vergangenheit an. Zehntausend Expertinnen und Experten kamen zusammen, um Zukunftsvisionen auszutauschen und neue Impulse zu setzen. Und das hat die Veranstaltung zweifellos geschafft: Die Aufbruchsstimmung war in den Hallen förmlich greifbar.

Doch bei aller Begeisterung darf nicht übersehen werden, dass so manche stolz präsentierte Idee an der Lebenswirklichkeit der Fahrgäste schlicht vorbeigehen dürfte.

Eine sprechende, KI-gesteuerte Bushaltestelle mag faszinierend klingen – doch welche Frau lässt sich dort nachts per Lautsprecher ihren Heimweg ansagen, was auch potenzielle Gewalttäter mithören können?

Eine S-Bahn mit Stehtischen und farbiger Beleuchtung wirkt innovativ, doch für Pendlerinnen und Pendler ist vor allem eines entscheidend: Pünktlichkeit.

Und eine neue Gemeinschafts-App von Hochbahn und BVG mag zwar schöne Features bieten, doch die Fahrgäste werden sich nach HVV-App und HVV-Switch-App innerhalb weniger Jahre nun schon wieder an einen neuen Namen und eine neue App gewöhnen müssen.

Natürlich ist eine störungsfreie Bahnbaustelle nicht innovationspreisverdächtig und ein pünktlicher Bus nicht unbedingt sexy. Aber es sind genau solche bodenständigen Wünsche, die ÖPNV-Fahrgäste hauptsächlich haben: Stabilität, Zuverlässigkeit und Einfachheit. Genau das sind die Voraussetzungen dafür, dass Menschen ihr Auto öfter stehen lassen.

Innovation darf niemals Selbstzweck sein, sondern muss sich an den Bedürfnissen der Fahrgäste messen lassen. Gerade bei öffentlichen Investitionen gilt es, den größtmöglichen Nutzen für möglichst viele Menschen zu schaffen.

Die deutsche ÖPNV-Branche hängt hinterher

Hamburg kann stolz sein auf sein hohes Niveau im ÖPNV und gilt in zahlreichen Bereichen bundesweit als Vorreiter. Doch der UITP-Kongress hat auch verdeutlicht, dass die gesamte deutsche Branche vielen anderen Ländern gewaltig hinterherhängt.

Als die Hochbahn internationale Gäste zur U5-Baustelle fuhr, wo ab 2029 die ersten fahrerlosen Züge fahren sollen, mussten französische Gäste grinsen. In Paris fährt die erste Metrolinie seit fast 30 Jahren vollautomatisch.

Auf einem Podium zeigten Verkehrsexperten aus Singapur 16 KI-Anwendungen, mit denen der örtliche Verkehrsbetrieb seinen Bus- und Bahnbetrieb effizienter organisiert. Die Hochbahn konnte auf dem Gebiet lediglich ein Projekt vorweisen.

Die Switch-App im HVV soll bald in Echtzeit anzeigen, wo der nächste Bus ist. In London gibt es das bereits seit 14 Jahren und ist in Weltmetropolen schon lange ein Standard-Feature.

Und während Hamburg und die Deutsche Bahn sich dafür feiern, dass ab dem kommenden Jahrzehnt auf vielen (nicht allen!) Hamburger S-Bahnstrecken halbautomatische Züge unterwegs sein sollen, plant Kopenhagen bis 2033 die Umstellung des gesamten S-Bahn-Netzes auf komplett fahrerlosen Betrieb – halbautomatisch fährt man dort seit 14 Jahren.

Der größte Schatz des UITP-Kongresses waren somit die Errungenschaften und Erkenntnisse, die Unternehmen und Menschen aus dem Ausland eingebracht haben. Der deutschen Branche würde es gut tun, sich nicht nur selbst auf die Schultern zu klopfen, sondern sich von diesen internationalen Vorsprüngen inspirieren zu lassen und gut funktionierende Lösungen auch mal zu übernehmen, statt immer alles selbst entwickeln zu wollen.

Übrigens: Bei NAHVERKEHR HAMBURG gibt es Inspirationen und Perspektivwechsel auch ganzjährig. Seit 15 Jahren berichten wir für unsere Leserinnen und Leser konstruktiv-kritisch und unabhängig über Best-Practice-Beispiele aus anderen Metropolen und zeigen Verbesserungsmöglichkeiten aus Fahrgastsicht auf – beispielsweise, was die Hamburger ÖPNV-Planung von Australien lernen kann, oder wie Düsseldorf innovativ die Parkplatznot lindert.

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Der Kopf hinter diesem Artikel

Christian Hinkelmann ist begeisterter Bahnfahrer und liebt sein Fahrrad. Wenn er hier gerade keine neue Recherchen über nachhaltige Mobilität veröffentlicht, ist der Journalist und Herausgeber von NAHVERKEHR HAMBURG am liebsten unterwegs und fotografiert Züge.

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4 Antworten auf „Nach dem UITP-Kongress in Hamburg: Jetzt bloß nicht ausruhen“

Manches gehet auch einfach ohne den ganzen Digitalzirkus. In Prag z.B. dürfen alle Personen >65 Jahre (das gilt auch für ausländische Staatsbürger) den ÖPNV kostenlos benutzen. Der Personalausweis gilt als Fahrkarte. Könnte man in Hamburg auch so machen. Kostet nichts, ist sofort umsetzbar und gerade für ältere, nicht so digital affine, Fahrgäse denkbar einfach zu begreifen. Aber warum einfach, wenn es doch kompliziert geht mit Apps und solchem Kram.

Diesem Kommentar kann ich voll und ganz zustimmen. Die Hamburger ÖPNV-Szene muss jetzt auch liefern und darf sich nicht nur auf Zukunftsversprechen konzentrieren.
Danke übrigens noch einmal für eure hervorragende Berichterstattung rund um den UITP-Summit. Das hat mir sehr geholfen. Dafür zahle ich mein Abo bei euch gern.

Lieber Herr Hinkelmann,
vielen Dank für die Einordnung der Erfolge in Hamburg. Wenn man als Leser selbst nicht so viel ins Auslang schaut, weiß man natürlich nicht, was anderswo alles schon gut funktioniert.
Es wäre sicherlich sehr sinnvoll, die guten Lösungen aus anderen Städten und Ländern zu adaptieren und damit das Tempo von Verbesserungen zu steigern.

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