Auf den barrierefreien Ausbau der U-Bahn kann die Hamburger Hochbahn stolz sein. Mittlerweile sind 88 der 93 Haltestellen „für mobilitätseingeschränkte Menschen nutzbar“, wie es auf der Website heißt. Bis auf Kiekut (zu wenig Fahrgäste) sollen in wenigen Jahren alle Haltestellen mit einem Aufzug pro Bahnsteig ausgestattet sein, die Bahnsteige ganz oder teilweise für einen niveaugleichen Ein- und Ausstieg erhöht sein und die Haltestellen über ein taktiles Orientierungssystem für blinde und sehbehinderte Menschen verfügen.
Doch trotz aller Bemühungen sind die öffentlichen Verkehrsmittel noch immer weit davon entfernt, barrierefrei zu sein. Nicht nur in Hamburg, sondern deutschlandweit. Eine Gruppe von erheblicher Größe scheitert weiterhin tagtäglich an Barrieren: Menschen mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen.
Dazu gehören Stefanie Hamer (40) und ihre Familie mit unterschiedlichen Ausprägungen von Autismus und ADHS. Sie engagiert sich im Verein Gemeinsam zusammen, dessen Aktionen für eine „Stille Stunde“ in Supermärkten mittlerweile bundesweit Aufmerksamkeit finden. Die Idee: Mindestens eine Stunde in der Woche läuft keine Musik im Supermarkt, das Piepsen der Scannerkassen wird abgestellt, genau wie leuchtende Displays. Das Licht wird gedimmt, laute (Handy-) Gespräche sollen unterbleiben.
Davon können Hamer und andere Menschen mit unsichtbaren Behinderungen in öffentlichen Verkehrsmitteln nur träumen. Während einer Fahrt mit der U3 auf dem Ring erzählt sie NAHVERKEHR HAMBURG-Redakteur Thomas Röbke davon, wie es für sie ist, U-Bahn zu fahren. Spoiler: eine Tortur.
„Wenn ich Bahn fahre, bin ich hinterher völlig kaputt“
Laut piepend fallen die Türen zu, ein Gong lässt die Lautsprecher scheppern: „Nächster Halt Landungsbrücken. Übergang zur S1, S3 und zu den Hafenfähren. Next stop: Landungsbrücken. Please exit here for harbour boat trips. Ausstieg rechts“, schrillt eine Frauenstimme mit 80 Dezibel durch den Wagen. Dann können wir unser Gespräch beginnen. Stefanie Hamer erzählt, wie anstrengend sie Telefonate um sich herum empfindet, „oder sogar Video-Calls in der Öffentlichkeit. Wer das Handy nicht am Ohr hat, redet ja auch lauter.“ Hamer hört sehr gut. Zu gut. Denn sie hört alles: „Die Gespräche dahinten genauso wie das Gespräch nebenan, die Durchsagen und Musik in allen Konstellationen. Alles ungefiltert und gleichberechtigt. Wenn ich Bahn fahre, bin ich hinterher völlig kaputt, weil ich so viel Konzentration und Energie verbraucht habe für Sachen, die für alle anderen selbstverständlich sind.“
Noch nie ist mir aufgefallen, wie oft das Licht im Waggon an- und ausgeht, obwohl wir tagsüber und oberirdisch unterwegs sind. Stefanie Hamer irritiert es jedes Mal. Auch die Lichtfarbe der Beleuchtung. Sie tut ihr in den Augen weh: „Ich habe immer ein großes Buch dabei, um die Augen zu fixieren. Ich versuche zu lesen, um das alles auszublenden.“ Auch eine Sonnenbrille sei hilfreich, „so Fahrradfahrersonnenbrillen mit diesen Scheuklappen an der Seite, die filtern die visuellen Reize links und rechts schon mal raus.“
Sie zählt die Stationen mit, damit sie weiß, wo sie aussteigen muss. „Jetzt ist das Licht schon wieder aus. Das macht mich gerade am meisten verrückt.“ Gong!!! „Nächster Halt: Rödingsmarkt…“ Enorm nützlich sei die HVV-App, nicht nur zum Haltestellenzählen: „Mein größtes Problem war früher ja immer der Fahrkartenautomat: Wird er meinen Schein nehmen? Wie viele Leute stehen vor mir davor? Bekomme ich meine Fahrkarte rechtzeitig? Wie viel früher muss ich am Bahnhof sein?“
Die Qual der Sitzplatzwahl
Nach dem Einsteigen kann sie sich nicht wahllos irgendwo hinsetzen. Zu eng darf es nicht sein, auf Körperkontakt reagiert sie sehr empfindlich. Aber auch auf Gerüche: aufdringliche Parfüms, kalten Rauch, Alkoholausdünstungen, Uringeruch nimmt sie viel stärker wahr als ein Durchschnittsfahrgast. Im Bus ist der beliebteste Platz für Menschen mit Autismus der Einzelsitz hinter dem Fahrer. In den neuen S-Bahnen sind es die Zweierbänke vor und hinter den Gelenken: „Die sind großartig, aber auf denen wollen alle sitzen“, sagt Stefanie Hamer. „Wenn wir uns auf einen Behindertensitz setzen würden, würden die Sprüche kommen: ,Warum setzen Sie sich da hin? Sie haben doch nichts.‘ Es muss einfach mehr rein in die Köpfe, dass es nicht nur körperliche Behinderungen gibt. Sondern ganz viele unsichtbare.“
Kurz ist sie irritiert: „Warum geht das Licht schon wieder an und aus? Das erschließt sich mir nicht.“ Natürlich könnte sie sich bei Sitzplatzdiskussionen offenbaren (à la „Ich möchte hier sitzen, denn ich habe ein Recht darauf“), doch in der Praxis ist das nicht so einfach: „Je angestrengter man ist, kann man sich irgendwann nicht mehr artikulieren.“ Sie kenne viele Betroffene, denen es so gehe wie ihrem elfjährigen Sohn: „Die sind irgendwann in Schockstarre. Da geht nichts mit Reden.“ Vielleicht könnten Kärtchen helfen, die Betroffene vorzeigen: „Ich habe eine nicht sichtbare Behinderung“ oder „Ich benötige Hilfe“ oder „Ich kann gerade nicht reden“, die richtige Wortwahl hätten sie noch nicht gefunden. Anstecker und Umhängebänder mit einem Sonnenblumensymbol, wie sie der britische Verband „Hidden Disabilities Sunflower“, auf Flughäfen in der ganzen Welt und auch in anderen Lebensbereichen verbreitet, führen in Deutschland meist zu Verwirrung, weil sie bei uns als Parteisymbol interpretiert werden.
Türen piepen schrill und knallen zu, „nächster Halt: Lübecker Straße…“. Ob sie von den neuen U-Bahn-Wagen gelesen hat, die mehr Steh- und deutlich weniger Sitzplätze bieten werden? „Nein, aber das klingt nicht gut. Dann muss ich wohl immer mein Fahrrad mitnehmen und es mir vor die Nase stellen, um Abstand zu gewinnen“, sagt sie lachend. „Ich habe die Zeit mit Kinderwagen sehr genossen, da hatte ich immer eine Barriere, die ich vor mich stellen konnte.“
Den Platz neben sich mit einer Tasche zu blockieren, kommt für sie nicht infrage: „Nein, das mache ich nicht. Das ist auch verboten. Ich halte mich an die Regeln. Wenn meine Kinder sehen, dass sich jemand nicht an die Regeln hält, triggert sie das, das macht sie richtig fertig. Mich auch, aber ich bin 40 Jahre alt, irgendwann schaltet man das auch ab. Meinen Sohn macht das richtig fertig.“
Wenig Sensibilität für nicht sichtbare Beeinträchtigungen
In Barmbek steigen wir um, um auf dem Ring zu bleiben. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich Stefanie der unangenehmen Situation Bahnfahrt aussetze. Warum sie sich das antut, frage ich. „Ich möchte andere für das Thema nicht sichtbare Beeinträchtigungen sensibilisieren“, antwortet Hamer. „Und dass es für Betroffene viel mehr Barrieren gibt als für andere. Da hinken wir in Deutschland echt hinterher.“ So oft bekommen Betroffene zu hören: „Stell dich nicht so an!“, oder „Ist doch nicht so schlimm!“ Hamer sucht nach einem Vergleich: „Das ist, als wenn du Durst hast und der andere sagt: ,Ich habe aber keinen Durst, reiß dich zusammen!‘“
Dass es nicht allen Menschen so geht wie ihr, hat Stefanie Hamer erst durch ihren ältesten Sohn bemerkt: „Er hat nicht diese ADHS-Komponente wie der jüngste, sondern ist reiner Asperger-Autist mit diversen Depressionen und Angstzuständen. Je mehr ich mich ab seinem vierten Lebensjahr mit dem Thema auseinandersetzte, desto mehr sah mein Mann. Er ließ sich diagnostizieren, hat aber „nur“ ADHS und kratzt gerade so am Autismusspektrum. Dann ließ ich mich diagnostizieren und ich bin eben voll drin.“ Anzusehen ist ihr davon nichts, bei der Begrüßung hat sie mir sogar die Hand gegeben: „Ich kann super maskieren, ich habe das mein Leben lang gemacht. Ganz oft höre ich: ,Aber du doch nicht!‘ Ich bin kommunikativ, ich bin offensiv, ich bin auch extrovertiert und viele sagen: Das kann man nicht sein als Autist. Kann man aber. Hier geht das Licht auch aus. Ich verstehe es nicht.“
Wie kann der HVV wirklich barrierefrei werden?
Und wie könnte nun die Nutzung des ÖPNV in Hamburg wirklich barrierefrei werden?
Stefanie Hamers Probleme lassen sich nicht durch Baumaßnahmen lösen. Auf Durchsagen zu verzichten, hieße Menschen mit Hör- oder Seheinschränkungen zu benachteiligen. Ohne das Piepen und Blinken der Türen könnten andere in Gefahr geraten. Aber es gibt Unterschiede: Die S-Bahn piept weniger schrill, die Durchsagen kommen ohne Alarmgong aus und werden von einer ruhigeren Männerstimme gesprochen, die sensible Menschen weniger triggert. In der S-Bahn fällt Stefanie Hamer („Ich bin so ein Kontrolletti, schaue tausendmal nach: Wie weit sind wir, wie weit müssen wir noch fahren?“) die Laufschrift an den Stirnseiten positiv auf, die die nächsten drei Stationen ankündigt. „Da ist nichts drumherum, keine wechselnden Bilder, keine Werbung wie auf den Monitoren in der U-Bahn.“ Die Monitore seien auch weniger zahlreich als in der U-Bahn. Seit die Wagen durchgängig sind, fehlen die großen Übersichtspläne an den Stirnseiten, die schnell zu erfassen waren. Doch dahin wird es schon aus baulichen Gründen wohl keinen Weg zurück geben.
Ruhezonen in Zügen und Bussen?
Das beste Mittel gegen Reizüberflutung wären Ruhezonen, doch da ist Hamer Realistin genug um zu wissen, wie schwer bis unmöglich es ist, so etwas einzurichten. Auch nicht zu unterschätzen sind mehr und sauberere Toiletten, sie geben Menschen mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen mehr Sicherheit. Eine „Stille Stunde“ wie im Supermarkt würde in der U-Bahn keinen Sinn ergeben, da sich das Mobilitätsbedürfnis auch bei Menschen mit Autismus und/oder ADHS über den ganzen Tag verteilt. Und „Stille Waggons“ sind auch eine Utopie: „Wer soll denn kontrollieren, wer rein darf und wer nicht?“, fragt Hamer und gibt zu bedenken: „Es gibt diverse Einschränkungen, wo die Betroffenen selbst Geräusche machen.“ So wie ihr jüngerer Sohn mit ADHS, der sich durch Summen, Brummen, Singen stimuliert. Hamer: „Es würde ja schon ein Waggon in jedem Zug helfen, wo diese ganze Klingelei und die Durchsagen nicht wären und die Handys stumm geschaltet. Vielleicht eine freundlich-warme Beleuchtung, die nicht ständig an- und ausgeht. Keine Monitore mit bewegten Bildern, das Flackern im Auge ist anstrengend. Keine Werbung. Viel weniger Reize, das wäre sehr viel wert, denn man ist komplett reizüberflutet.“
Bis auf Weiteres werden sich Stefanie Hamer und viele andere also mehr schlecht als recht im ÖPNV mit ihren „Hausmitteln“ behelfen müssen: „Und zum Glück gibt es sehr gute Kopfhörer!“
9 Antworten auf „Reizüberflutung im ÖPNV: Wenn die Fahrt zur Qual wird“
Man kann die Menschen nicht alle unter einen Hut bringen. Da gibt es welche, die – wie hier beschrieben – unter Reizüberflutung leiden. Da gibt es aber bspw. Schwerhörige oder andere Gruppen, die auch ihre besonderen Ansprüche haben, welche möglicherweise im Konflikt zueinander stehen.
Grundsätzlich ist die Zusammensetzung der Menschen in einem Bus oder einem Waggon sehr heterogen. Man kommt mit Menschen zusammen, mit welchen man sich aufgrund ihres Verhaltens oder Hygiene-Standards freiwillig nicht umgeben würde. Teilweise werden Mitfahrende auch als Bedrohung empfunden. Das führt zu Stress, auch bei vollkommen gesunden Menschen.
Eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln insbesondere mitten in der Großstadt ist häufig eine Herausforderung bzw. ein notwendiges Übel – so wie viele Dinge im Leben. Übrigens auch das Fahren mit dem privaten PKW wird von vielen als nicht angenehm empfunden.
Da ich, weil ich blind bin, das Flackende Licht oder das An- oder Ausschalten nicht wahrnehme, ist diese Information für mich neu. Aber ich kann nachvollziehen, dass das nerven kann. Und die Sinnhaftigkeit erschließt sich mir auch nicht so recht.
Vielen Dank für diesen einfühlsamen Bericht!
Das Piepen beim öffnen der Türen ist völlig überflüssig – und auch beim schließen müsste man vor allem mit Blindenverbänden erörtern, wie lange und laut die Signaltöne sein sollten. Früher gab es ein „zurück bleiben“ bitte und vom Fahrer wurde lediglich die nächste Station angesagt.
Es gibt nur beim Schließen der Türen Signale. ein schnelleres bei der Abfertigung und ein langsameres, wenn die Türen beim DT5 zwischendurch automatisch geschlossen werden.
Die S-Bahnen piepen beim Öffnen der Türen und machen bei jedem Halt eine Ansage der Linie und des Ziels. Extrem anstrengend im Vergleich zur U-Bahn.
Ach ja, und genau das ist zu wenig. Die richtige Ausstiegsseite zu wissen ist neben dem Haltestellennamen eben auch nötig.
Vielen Dank für diesen einfühlsamen Beitrag zu einem wichtigen Thema. Ich bin selbst zwar nicht betroffen, wohl aber mein Kind. Und ihn zu begleiten ist auch schon sehr anstrengend.
Im übrigen sind einige angesprochene Punkte auch für Menschen ohne Einschränkungen unangenehm. Das ständig an- und ausgehende Licht zum Beispiel. Oder auch die unangenehm engen Sitze, seit die Hochbahn vier Sitze in die kleinen U-Bahn-Wagen quetscht wo eigentlich nur drei passen. 90% aller Doppelsitze sind dadurch mit nur einer Person besetzt, auch wenn im Wagen zahlreiche Menschen stehen. Und wenn man doch mal zu zweit auf einem Doppelsitz sitzt, sitzen fast alle Menschen mit einer halben Arschbacke im Gang. Weil es anders gar nicht geht.
Das Thema ist für mich auch ein wenig relevant. Perfekt ist es diesbezüglich in Japan, weil alle dort sich daran halten, wenn es einen Ruhebereich gibt. (Es ist sogar untersagt, überhaupt in der U Bahn zu telefonieren). Das Problem in Europa (UK und Deutschland kenne ich das ausgiebig aus eigener Anschauung) ist, daß zu viele Leute sich zum Bsp. in Ruhebereichen nicht daran halten, weil sie eben meinen, ihrer sozialer Exhibitionismus erfordert es, daß alle mitbekommen, wenn sie mit der U Bahn unterwegs sind. Was die Werbung in den Zügen angeht, das kann ich persönlich ignorieren, aber ja für empfindlichere Gemüter kann das schon sehr nervenaufreibend sein.