Die Stimmung ist romantisch unweit des Bio-Bauernhofs Gut Wulfsdorf in Schleswig-Holstein: ein kleiner See, saftige Wiesen, grasende Pferde, schattenspendende Wälder. Herrliches Landidyll hinter der Hamburger Stadtgrenze.
Und dann kommt plötzlich … eine U-Bahn angesaust! Irgendwo versteckt hinter Bäumen auf einem einsamen Gleis. Und auch, wenn es hier auf dem Dorf nicht so aussieht: Der Takt ist großstädtisch. Alle zehn Minuten fährt hier morgens und nachmittags ein Zug. Am restlichen Tag immerhin noch alle 20 Minuten.
Doch für wen? Die Züge sind oft fast leer. Es gibt kaum Häuser am Gleis. Und um die einzige Kleinstadt in der Nähe macht die U1 einen großen Bogen. Nirgendwo sonst im HVV fahren so wenige Menschen mit der U-Bahn wie dort. Eine Fehlplanung? Oder Weitsicht?
NAHVERKEHR HAMBURG erzählt die Geschichte hinter dieser kuriosen Wald-und-Wiesen-U-Bahn, warum sie vor 111 Jahren überhaupt gebaut wurde, wieso sie absichtlich an Ahrensburg (heute 34.200 Einwohner) vorbeifährt, wo eigentlich noch zwei weitere Stationen geplant waren, was die Strecke schon damals mit der Überlastung des Hamburger Hauptbahnhofs zu tun hatte, warum dort mal Lastwagen auf Schienen fahren sollten und wie Planungsfehler von damals in den nächsten Jahren korrigiert werden.
Wohnen im Grünen war für Hamburg ein Problem
Hamburg um 1910: Die Stadt boomt, die Wirtschaft brummt. Aufbruch, Wohlstand, Wachstum. Überall schießen Fabriken aus dem Boden, die Einwohnerzahl erreicht erstmals die 1-Million-Marke und die dunklen Vorboten des Ersten Weltkriegs sind noch weit weg. Und wer das nötige Kleingeld hat, zieht ins Grüne. Wohnen im Umland, arbeiten in der Stadt. Die überall entstehenden neuen Bahnlinien machen’s plötzlich möglich. Ein neues Lebensgefühl!
Und genau das wurde für die Stadt damals zunehmend zum Problem, denn die meisten dieser „Vororte“ befanden sich außerhalb des Hamburger Stadtgebiets: Othmarschen, Blankenese, Lokstedt, Rahlstedt – wer dort wohnte, zahlte seine Steuern an Preußen. Der Hamburger Stadtkasse entging damit immer mehr Geld. Eine Lösung musste her. Und die fand man in den Walddörfern: Vier kleine Flecken Land, die wie Inseln im preußischen Gebiet lagen, aber Hamburg gehörten (Farmsen/Berne, Volksdorf, Wohldorf/Ohlstedt…
14 Antworten auf „U-Bahn durchs Nirgendwo – deswegen wurde sie gebaut“
Zur ursprünglichen Planung über den Bahnhof Ahrensburg:
Wäre es eine Eisenbahnstrecke geworden, dann wäre diese sicherlich schon vor 60 oder 70 Jahren stillgelegt worden. Und eine U-Bahn-Station direkt am Bahnhof Ahrensburg dürfte auch heute aufgrund der – trotz vielbeklagter Verspätungen und Ausfällen – übermächtigen Konkurrenz durch die Regionalbahn kaum genutzt werden. Dieser Grund war ja auch damals bei der Planung schon ausschlaggebend. Insofern zeigten sich die Planer gar nicht so kurzsichtig. Es konnte ja keiner wissen, dass Großhansdorf zwanzig Jahre später an Stormarn fallen sollte und damit ambitionierte Pläne zum Bau von Großsiedlungen hinfällig geworden waren.
„Kurzsichtig“ war vor allem, eine grenzüberschreitend gedachte Entwicklungsplanung bewusst zu blockieren. Ahrensburg/Großhansdorf könnte heute ähnlich wie Schenefeld oder Norderstedt Endpunkt eines großstädtischen Siedlungsbandes sein, das von Ohlsdorf über das Alstertal, Poppenbüttel, Sasel und Volksdorf bis Beimoor und Schmalenbeck reichen würde. Entsprechende Bahnkonzepte waren da, wurden durch hamburgische Überheblichkeit, Selbstüberschätzung und Kurzsichtigkeit aber ignoriert bzw. verhindert. Das gilt auch für Kozepte, mit denen man die Schnelligkeit der Strecke und auch ihre Vernetzung auch später noch erheblich hätte optimieren können.
Da überrascht es schon nicht mehr, dass Hamburg trotz immenser Wohnungsnot und Flächenmangel in den 1950er und 1960er Jahren nicht etwa gut mit U1 erschlossene Großsiedlungen in Wulfsdorf und Beimoor in Holstein geplant hat, sondern in Osdorf, Steilshoop, Tegelsbarg oder Bergstedt ohne Bahnanschluss.
Planungsfehler lassen sich bei Schnellbahnen eben später nie mehr korrigieren. Am Rande Londons scheiterte ein ähnlicher Versuch 2016.
Seit über zwanzig Jahren wohne ich in Großhansdorf und habe den Artikel mit großem Interesse gelesen. Die U-Bahn hat mir dann und wann schon mal sehr genützt, aber so richtig glücklich bin ich mit dieser nicht. Denn die Fahrzeit in die Hamburger Innenstadt ist vergleichsweise lang, zumal sozusagen parallel eine Autobahn verläuft. Wer ins Zentrum von Ahrensburg möchte, kann die U-Bahn nicht sinnvoll einbinden und muss stattdessen auf einen nur stündlich verkehrenden Bus ausweichen. Na ja, vielleicht werden die restlichen Gleise eines Tages für die U5 benötigt. 🙂
Zur Idee, einen Straßenbahnwagen hochbahntauglich zu machen, gibt es aus dem Jahre 1920 tatsächlich eine Zeichnung, die einen A4-Beiwagen mit hochgelegten und für die U-Bahnsteige verbreiterten Einstiegen zeigt. Da es in der Kommentarfunktion aber keine Möglichkeit gibt, eine Grafik anzuhängen, kann das hier vermutlich nicht gezeigt werden.
Hallo Herr Dodt, vielen Dank für den spannenden Hinweis. Auf unsere Community ist Verlass! Sie können das Bild gern auf einem Webspace Ihrer Wahl hochladen und dann hier in den Kommentaren verlinken oder Sie schicken es uns. Wir ergänzen es dann im Artikel: info@nahverkehrhamburg.de
Beste Grüße Christian Hinkelmann
Vielen Dank für den gut recherchierten Artikel!
In einem frühen Plan aus einem Archiv der Gemeinde Großhansdorf sollte die „heutige“ Strecke noch über Beimoor hinaus in einem nach Westen verlaufenden Bogen bis zu einer weiteren Station direkt an der Gemeindegrenze führen. Das Gebiet ist bis heute unbebaut.
In den 1950er Jahren ist das zweite Gleis wieder aufgebaut worden, als Ersatz für das bis dahin bestehende erneuerungsbedürftige Gleis, das dann ohne große Betriebsunterbrechung entfernt werden konnte.
Auch die Stecke Volksdorf-Ohlstedt war noch lange Zeit weitgehend eingleisig. Die Zwangspunkte aus der Eingleisigkeit beider Strecken führten dann im gemeinsamen Streckenabschnitt nach Barmbek zu einem 5/15-Min.-Humpeltakt, der erst nach zweigleisigem Ausbau der Ohlstedter Strecke behoben werden konnte.
Der Artikel zeigt auf das Beste dass die Unfähigkeit der Hamburger Politik eine einigermaßen sinnvolle und den Verkehrsbedürfnissen angepasste U-Bahn-Planung auf die Beine zu stellen, Tradition hat. Das U5 Projekt heute zeugt von dem gleichen kleinkarierten Denken und der völligen Inkompetenz in Sachen SPNV-Planung. Um die hochdefizitäre U1-Linie zu retten gibt es neben der leicht zu verbauenden besseren Verknüpfung an der Haltestelle Ahrensburg aber bitteschön direkt an der Unterführung der U1 unter der Fernbahnlinie noch die Möglichkeit, die U1 bis an die A1 zu verlängern. Dort müsste eine Ausfahrt und ein großer Park&Ride Parkplatz gebaut werden. Dann könnten sich viele Pendler die Fahrt mit dem Auto über das stauanfällige Autobahndreieck Hamburg-Ost in die Innenstadt sparen und gleich in die U-Bahn oder dann nochmals in die S-Bahn umsteigen. Solche Konzepte sind in den Niederlanden üblich, aber vom Ausland lernen, entspricht leider nicht hanseatischer Hochnäsigkeit.
Ja, echt voll „kleinkariert“ von Hamburg 24 km neue U-Bahn mitten durch die Stadt zu bauen…
Freuen Sie sich doch einfach mal über diesen schönen, informativen Artikel, statt immer nur über die Verkehrspolitik zu schimpfen. Der Ursprung dieser Strecke liegt in einer Zeit, als die Prioritäten offensichtlich ganz anders lagen, als heute, wo es darum geht Autoverkehr zur guten ÖPNV zu ersetzen.
Und was den P&R Vorschlag angeht: schon heute braucht man 44 Minuten von Großhansdorf zum Hbf mit der U1. Wer würde sich denn solche Fahrzeiten antun, um vom Auto umsteigend in die Innenstadt zu kommen?
Ich muss da dem Herrn Jung Recht geben. Das ist nicht einfach nur eine Sache von „damals hat man einfach andere Prioritäten gesetzt“. Der Artikel zeigt eindrücklich woher die Mentalität der Hamburger Verkehrspolitik kommt und warum unser ÖV-Netzt so geplant wurde und noch wird, wie es bis zum heutigen Tag und wohlmöglich für die nächste Zeit der Fall sein wird.
Und so betrachtet ist ein gewisser Zynismus leider allzunachvollziehbar, weil schlichtweg nicht von der Hand zu weisen ist, dass bei alledem Prestige an erster Stelle stehen anstatt dem Streben nach technisch und betrieblich sinnvollen Lösungen, die in erster Linie die Bedarfe decken sollen. Siehe auch U4 und U5. Warum werden Linien so eifrig umgesetzt, die durch bereits gut erschlossene oder noch unbesiedelte Schickeria-Viertel verlaufen sollen, während Stadtteile wie Lurup/ Osdorf, Jenfeld, Wilhelmsburg und Harburg seit Jahrzehnten(!) vertröstet wurden und teils heute immer noch werden.
Diese Kritik passt sehr wohl unter diesen Artikel, weil die U1 ich in Sinnbild für diese hanseatische Hochnäsigkeit ist. Heutzutage würde vermutlich kein Verkehrsplaner (mit gesundem Menschenverstand) eine solche Linie planen, die in großen und zahlreichen Bögen so weit rausfährt. Außer man würde vernünftigerweise einen Parallelen Expressbetrieb mit berücksichtigen. Hat man aber nicht.
Diese „Schickeria-Viertel“ sind ja nicht gerade autogerecht – die alten wegen der Enge und die neuen werden von vornherein so konzipiert. Und im Gegensatz zum Bus ist sich für die U-Bahn eigentlich niemand zu fein.
Da bin ich auf die Kalkulation gespannt, warum die U1 hochdefizitär ist… Bitte einmal belegen. Danke!
Willkommen aus dem Urlaub zurück, und herzlichen Dank für euren super informativen Artikel!
Das Wenigste davon kannte ich bisher, vor allem auch nicht die ganzen Streckenplanungen, die um einiges besser gewesen wären, als die realisierte Variante. Und ich hatte beim Lesen jede Menge Déjà-vus.
Was hat sich denn grundlegend in 111 Jahren geändert, wenn es selbst heute nicht möglich ist, eine gemeinsame Bahnstation zu bauen?
Ich hatte hier vor längerer Zeit einmal den Vorschlag gemacht, den S4-Bahnsteig über eine geschwungene, behindertengerechte Rampe mit dem U1-Bahnsteig zu verbinden. Dazu müsste nicht mal die U1-Haltestelle verlegt werden, wenn so eine Verbindung vom Mittelbahnsteig der S4 nach unten und dann mit Drehung an das Ostende des U1-Bahnsteigs herangeführt würde. Eine solche geschwungene Brücke könnte sogar architektonisch sehr schön sein, wie diese: https://www.sassnitz-ruegen.de/fussgaenger-haengebruecke-von-sassnitz/
richtig man könnte mit relativ wenig Aufwand – auch in dem einen Fahrstuhl baut und dann am U Bahn Gleis entlang einen Weg einrichten (ggf. das Gleis etwas zur Seite verlegen und deinen sehr vernünftigen und eleganten Übergang gestalten. Das wäre wirklich die Gelegenheit: Was jetzt tatsächlich umgesetzt ist, zeigt, daß die Planer entweder noch nie von einer Bahn zur anderen umgestiegen sind oder es ihnen egal ist, Umsteigebeziehungen zu organisieren oder was was weiß ich. Besonders schlimm sind aber die Bürgerinitiativen, die sich über zu hohe Lärmschutzwälle aufregen anstatt ihr Engagement einmal auf die Dinge zu richten, die wirklich von Belang sind.