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Wer auf den HVV-Linienplan in Hamburg schaut, bemerkt schnell eine Besonderheit: Im Nordosten fährt die U-Bahn quasi bis aufs Dorf, während anderswo ganze Stadtteile mit riesigen Wohnsiedlungen vom U- und S-Bahn-Netz abgehängt blieben.
Diese Überlandabschnitte machen die U1 mit einer Streckenlänge von insgesamt 55 Kilometern zur längsten U-Bahnlinie Deutschlands.
Warum ist das so? Wieso fährt dieses Innenstadt-Massentransportmittel in eher dünn besiedelte Bereiche am äußersten Stadtrand und sogar ins holsteinische Umland hinaus?
Aus heutiger Sicht mag man die Gründe dafür kaum glauben. Es ging um alte Rivalitäten, um Steuer-Einnahmen und auch Hamburger Stolz.
NAHVERKEHR HAMBURG erzählt hier die Geschichte hinter dieser kuriosen U-Bahn-Strecke.
Um die Hintergründe der Dorf-U-Bahn nach Ohlstedt und Großhansdorf zu verstehen, müssen wir tief in die Vergangenheit zurück. Ende des 19. Jahrhunderts explodierten die Einwohnerzahlen in Hamburg regelrecht. Städte waren attraktiv und boten Arbeit, während es den Menschen auf dem Land nicht gut ging. Im Raum Hamburg brummte die Wirtschaft. Die Anziehungskraft war daher riesig.
Hamburg platzte aus allen Nähten
Doch woher die dringend benötigten Flächen für neue Wohngebiete nehmen? Das Hamburger Stadtgebiet war damals noch viel kleiner als heute: Altona gehörte beispielsweise noch nicht dazu. Bei der Straße “Schulterblatt” war bereits die Grenze zu Preußen (siehe hier). Auch Wilhelmsburg im Süden und Wandsbek im Osten waren preußisches Gebiet. Kurz: Die Stadt platzte aus allen Nähten.
Dazu kam: Hamburg und das Königreich Preußen mochten sich nicht besonders. Es herrschte eine über fast hundert Jahre gewachsene ausgeprägte Rivalität. Man schenkte sich nichts. Und anstatt gemeinsam den knappen Siedlungsraum vernünftig zu entwickeln, plante jede Seite ohne Rücksicht auf — oder teils sogar bewusst gegen — die Interessen des Nachbarn. Denn wer eine Fabrik oder eine finanziell gut gestellte Familie auf seinem Gebiet ansiedeln konnte, kassierte auch deren (üppige) Steuereinnahmen.
Ein gutes Beispiel für diese Rivalität ist Hamburgs erste S-Bahn-Strecke, die 1906 von der preußischen Staatsbahn eröffnet wurde und vom damals preußischen Blankenese über die Elbvororte und die ebenfalls preußische Großstadt Altona bis zum Hamburger Hauptbahnhof führte. Im weiteren Verlauf bis zum Ohlsdorfer Friedhof holte die Strecke so weit nach Osten aus, dass auch noch das preußische Wandsbek von der Bahn profitierte. Diese Strecke war vor allem bei vermögenden Familien angesagt, denn sie ermöglichte das Wohnen in schicken Vorortvillen und einen schnellen Arbeitsweg in die Stadt. Gut für die preußischen Gebiete, die so die Steuergelder der dorthin ziehenden vermögenden Familien kassierten, — schlecht für Hamburg und seine Stadtkasse.
Und zum Entsetzen der Hamburger Stadtväter wollten die Preußen dieses Erfolgsmodell aus den Elbvororten schon bald kopieren und mit einer Verlängerung der S-Bahn ins preußische Alstertal noch mehr Steuerzahler aus der Hansestadt locken. Ein tatsächlich ernsthaftes Problem für einen Stadtstaat, der eigentlich immer knapp bei Kasse war.
Warum die S-Bahn ab 1907 Hamburgs größtes Problem war
Konkret ging es um die Idee, die damals einzige S-Bahnstrecke von Blankenese nach Ohlsdorf in Richtung Poppenbüttel (heutige S11) zu verlängern, um so auf preußischem Boden viele schöne neue Wohngrundstücke im idyllischen Alstertal zu erschließen. 1908 wurden erste Planungen genehmigt. Dahinter standen auch Immobilienentwickler bzw. Bauern und Grundbesitzer, die im großen Stil ihre Grundstücke verkaufen wollten.
Für Hamburg war das ein Alarmsignal. Die Stadt musste es schleunigst schaffen, auf eigenem Staatsgebiet mehr “Schöner Wohnen” im Grünen zu ermöglichen, um nicht noch mehr gut betuchte Steuerzahler zu verlieren. Aber wo?
In den hamburgischen Marschlanden (siehe hier) zwischen Billbrook und Bergedorf gab es zwar viel Platz, doch das Land dort war nass und überflutungsgefährdet — nicht die erste Wahl für Städtebau. Aber im Nordosten gehörten dem Stadtstaat Hamburg vier kleine Flecken Land, die wie Inseln mitten im preußischen Gebiet lagen: Die so genannten Walddörfer (Farmsen/Berne, Volksdorf, Wohldorf/Ohlstedt und Großhansdorf/Schmalenbek).
Ihr Pluspunkt: Sie waren die schönsten Gegenden auf Hamburger Staatsgebiet. Ihnen fehlte nur noch eine gute Anbindung an die Innenstadt. Die wollte Hamburg nun mit höchster Priorität schaffen. Es ging ja um viele Steuereinnahmen, da störte es niemanden, dass in den damals abgelegenen Dörfchen seinerzeit nur wenige tausend Menschen lebten.
Zwar gab es seit 1904 eine elektrische Kleinbahn, die vom preußischen Bahnhof Rahlstedt über Meiendorf nach Hamburg-Volksdorf führte und 1907 von dort über Ohlstedt nach Wohldorf verlängert wurde (mit einem Abzweig bis etwa zum heutigen U-Bahnhof Oldenfelde nur für Güterverkehr), doch diese damals zwar hochmoderne Bahn war mit 25 km/h Höchstgeschwindigkeit und dem Umsteigezwang in Rahlstedt viel zu langsam. Von Wohldorf brauchte man im günstigsten Falle bis zum Hauptbahnhof etwa 45 Minuten (mehr zur Kleinbahn hier).
Ließ sich diese Kleinbahn irgendwie sinnvoll ausbauen? Das Kleinbahn-Unternehmen war davon überzeugt und schlug vor, seine Güterstrecke nach Oldenfelde bis zum U-Bahnhof Barmbek oder bis zum S-Bahnhof Friedrichsberg zu verlängern. Doch das begeisterte die Hamburger Bauverwaltung kaum: Zu langsam und durch das Umsteigen auf die U- oder S-Bahn auch zu umständlich.
Hybrid-Lösung war Hamburg nicht attraktiv genug
Die Eigentümer der Kleinbahn schoben eine neue Idee ins Rennen und schlugen etwa 1909 eine – für damalige Zeiten – revolutionäre Hybridlösung vor: Zweisystemzüge, die in Barmbek von den Kleinbahngleisen auf das (damals noch im Bau befindliche) U-Bahn-System wechseln und so umsteigefrei bis unter die zentrale Hamburger Mönckebergstraße durchfahren sollten. (Die S-Bahn hielt damals nur Hauptbahnhof und Dammtor, also weitab der Innenstadt mit ihren Arbeitsplätzen.)
Aber Hamburg war auch diese Lösung noch nicht weltstädtisch genug: Zu ebener Erde konnte eine Kleinbahn nur im Zuckeltempo unterwegs sein. Und wenn das von ihr durchfahrene Gebiet einmal dicht bebaut sein würde, würde eine Unmenge von Bahnübergängen für die Straßen nötig werden. So kam man 1910 auf die Idee, die neue Bahnstrecke in die Walddörfer gleich durchgehend als Hoch- und Untergrundbahn mit völlig eigener Trasse zu errichten, auf denen die Züge mit schnellbahnmäßigen 50 km/h fahren konnten (mit Rückenwind auch etwas schneller).
Blieb nur noch ein Problem: Diese neue 29 Kilometer lange „Walddörferbahn“ brauchte Preußens Zustimmung für die Abschnitte auf preußischem Gebiet. Hamburg verknüpfte die Verhandlungen mit Preußen über diese Bahn zeitlich mit den Verhandlungen über die inzwischen konkret gewordene S-Bahn durch das Alstertal Richtung Poppenbüttel (s.o.).
Hamburg ließ sich seine Zustimmung zu dieser “Alstertalbahn” durch das hamburgische Gebiet von Klein Borstel teuer abkaufen, in dem es seine Interessen durchdrückte: So wurden preußische Sonderwünsche nach zusätzlichen Bahnhöfen an der Walddörferbahn oder gar Umwegstrecken zur Erschließung der dortigen preußischen Orte (wie etwa der Dörfer Bramfeld oder Steilshoop) von vornherein abgebügelt. Es ging dabei nicht nur um Einsparungen: Jeder neue Bahnhof der Walddörferbahn sollte vielmehr möglichst weit von preußischem Gebiet entfernt liegen, um dessen Besiedelung (und damit den Abfluss von Steuergeldern) zu erschweren! So endet die heutige U1 auch in Ohlstedt und nicht wie die Kleinbahn in Wohldorf, wo deren Endstation direkt an der Staatsgrenze lag in Sichtweite zum preußischen Duvenstedt dahinter.
Eröffnung mit Volldampf
Die Bürgerschaft beschloss den Bau der Walddörferbahn am 21. Februar 1912, also nur wenige Tage nach Beginn des Betriebs auf dem allerersten Hamburger U-Bahnabschnitt (Barmbek – Rathaus). Der Staatsvertrag mit Preußen wurde am 17. März 1912 genehmigt und wenige Monate später begannen die Arbeiten. Hamburg wollte Tempo: Schon 1915 sollte die rund 29 Kilometer lange Walddörferbahn mit ihren fast 70 Brücken eröffnet werden. Doch dann kam der Erste Weltkrieg dazwischen. So konnte erst 1918 ein reichlich provisorischer Dampfbetrieb zwischen Barmbek und Volksdorf aufgenommen werden, denn für die Elektrifizierung fehlte nun Material und Geld. Ab 6. September 1920 konnte immerhin auf einem Gleis elektrisch von Barmbek nach Volksdorf gefahren werden.
Zwischen Volksdorf und Wohldorf musste die Kleinbahn sogar noch bis 1925 weiterfahren (Ihre Güterzüge fuhren sogar bis 1934 weiter). Erst dann kam die U-Bahn nach Ohlstedt und wurde die Kleinbahn auf das zwei Kilometer lange Reststück zwischen Ohlstedt und Wohldorf reduziert (1961 wurde sie ganz stillgelegt.) Heute braucht die U1 von Ohlstedt bis zum Hauptbahnhof 36 Minuten.
Ländergrenzen, Rivalitäten, Steuergeld und riesige Zukunftshoffnungen sorgten damals also für den Bau dieser außergewöhnlichen U-Bahn weit hinaus aufs Land, denn dort draußen hoffte Hamburg auf viele Neubürger und florierende Villenviertel.
Durch die damalige Zeitenwende (Erster Weltkrieg, Revolution, Spanische Grippe, und Wirtschaftskrise) zerschlugen sich diese Hoffnungen weitgehend und die Walddörferbahn galt jahrzehntelang als teure Fehlinvestition. Erst seit den 1950er Jahren ist die Strecke bis Volksdorf so nachgefragt, wie es für eine U-Bahn typisch ist. Der Endbahnhof Ohlstedt zählt aber auch heute nur rund 3.100 Ein- und Aussteiger. Zum Vergleich: In Farmsen sind es über 31.000.
Weniger Fahrgäste lockt im Hamburger U-Bahnnetz nur noch die Zweiglinie der Walddörfer-U-Bahn nach Großhansdorf an, die sogar noch weiter ins Nirgendwo führt. Warum diese überhaupt gebaut wurde, lesen Sie in den kommenden Wochen in einem weiteren Artikel hier auf unserer Website.
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15 Antworten auf „Die Geschichte hinter Hamburgs Dorf-U-Bahn“
In Wandsbek -Gartenstadt geboren und Großeltern (mütterlicherseits) in Großhansdorf besucht! U-Bahn fahren als Kind war Abenteuer!Geboren 1950!😏
Spannende Geschichte, frage mich allerdings, warum die U-Bahnstation Hoisbüttel* in Ammersbek (sollte schon einmal den Namen Bergstedt bekommen) zwischen Buckhorn und Ohlstedt in der sonst gut recherchierten Untersuchung ausgelassen wurde.
* https://de.wikipedia.org/wiki/U-Bahnhof_Hoisbüttel
Sehr interessanter Artikel, vielen Dank. Ein Besuch am nie gebauten Bahnhof Beimoor hinter Großhansdorf ist sehr empfehlenswert. Und auf Maps kann man noch ab S Bahn Poppenbüttel die Schneise erkennen, die jahrzehntelang für eine Weiterführung Richtung Norden freigehalten wurde. Erst in den letzten Jahren wurde auf dem Gebiet Wohnungsbau betrieben.
Das erklärt ganz gut, warum es in Ahrensburg bis heute keine Verknüpfung des Bahnhofs der DB-Strecke mit der Hochbahn gibt. Hoffen wir, dass die S-Bahn Station Ahrensburg (West) mit Weitsicht gebaut wird.
Vertiefend sei auf die nie eröffnete Station Beimor hingewiesen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnhof_Beimoor
das liesse sich relativ einfach umsetzen in Ahrensburg; Einfach den Bahnsteig Richtung S-Bahn verlängern und unter der bestehenden Brücke einen Fahrstuhl einbauen bzw. eine Treppe. Mit etwas Fantasie läßt sich das sehr elegant und auch preiswert umsetzen. Aber ich befürchte, daran fehlt es auch hier. Wahrscheinlich wird wieder erwartet, daß die Umsteiger Treppe runter, rüber über die Straße zum U Bahn Vorplatz wandern und dann Treppe runter zur U Bahn.
Kurze Frage in die Runde: Möchten Sie in Zukunft mehr von solchen Historien-Geschichten über den Hamburger Nahverkehr lesen? Und falls ja: Wie häufig und worüber genau?
Beste Grüße, Christian Hinkelmann
Ja unbedingt. Mich würde generell auch interessieren wie im einzelnen in der jüngeren Vergangenheit U Bahnhöfe wie z.b Niendorf Nord (von Niendorf Mitte) oder auch die U3 Ergänzung nach Mümmelmannsberg entwickelt wurden, warum sie so angelegt wurden, welche Kosten damals entstanden bzw. welche Rolle in den achtziger bei den Entscheidungen der Bau von Atombunkern spielte (bzw. wie wurden U Bahnen eigentlich generell finanziert, stimmt es, daß HH ohne Bundeszuschüsse die Erweiterung der U1 nach Wandsbek Anfang der sechziger Jahre ohne Bundeszuschüsse gebaut hat. Entsprechende Informationen dazu sind im Internet doch recht spärlich.
Ja auf jeden Fall!
ja gerne
Ja, unbedingt und so oft es geht!
Ich finde den Beitrag sehr spannend! Mich würden auch die „Geisterbahnhöfe“ interessieren, die nie genutzt wurden (in Steilshoop, Hauptbahnhof Nord,…). Außerdem die Entwicklung zur Erweiterung des Hauptbahnhofs.
Historische Fotos und Pläne wären eine tolle Ergänzung!
Das war wirklich hoch-interessant und Vieles davon neu für mich. herzlichen Dank für den Beitrag ^-^.
Vielen Dank für diesen informativen Geschichtsbeitrag! Ich freue mich schon auf den zweiten Teil.
So etwas macht NAHVERKEHR HAMBURG immer wieder interessant.
Danke für diesen Artikel. Ja, das Flair da draußen auf der U1 ist irgendwie ganz besonders. Wirklich eine schöne Strecke durchs Grüne und wenn man genau hinguckt, kann man in den Stationen viele kleine Relikte aus der Anfangszeit entdecken.
Nenne doch bitte mal einige Beispiele?