Das Deutschlandticket hat gerade erst Fahrt aufgenommen – schon brodelt es wieder in der Politik. Bund und Länder sorgen sich um die Finanzierung. Aktuell steuern beide je 1,5 Milliarden Euro zum Ticket bei. Doch eine neue Studie im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums, die in der vergangenen Woche in Teilen öffentlich wurde, schlägt Alarm: In den kommenden Jahren könnten die Kosten auf bis zu 12,7 Milliarden Euro ansteigen!
Die Bundesländer und die Verkehrsverbünde haben zunehmend Angst, dass sie auf den absehbar zusätzlichen Kosten sitzen bleiben könnten. Und diese Sorge ist nicht unbegründet, denn Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat schon deutlich gesagt, dass er seinen Anteil nicht erhöhen werde. Stattdessen sollten die Bundesländer ihre Kosten senken, indem sie den „Flickenteppich der Verkehrsverbünde“ neu ordnen, so sein Vorschlag. Zwei Milliarden Euro würde nach seinen Worten allein der Ticketvertrieb im ÖPNV kosten. „Das muss sich ändern“. Zum Vergleich: Insgesamt kostet der Öffentliche Nahverkehr in Deutschland rund 14 Milliarden Euro jährlich.
Mehr als 60 Verkehrsverbünde in Deutschland
In Deutschland gibt es über 60 verschiedene Verkehrsverbünde. Jeder dieser Verbünde hat seine eigene Führung, eigene Apps und unterschiedliche Ticket-Systeme. Das Ganze ist über viele Jahre hinweg gewachsen und hat sich zu einem ziemlich komplexen System entwickelt, das nicht immer leicht zu durchschauen ist.
Und heute kaum noch vorstellbar: Jahrelang hat die Branche daran gearbeitet, all diese unterschiedlichen Tarifsysteme zu einer Super-App zu vereinen, in der der es ganz einfach werden sollte, von Wilhelmsburg nach Cottbus-Schmellwitz oder von Poppenbüttel nach Sigmaringen eine ÖPNV-Fahrkarte zu kaufen. Kurz vor der Pandemie wurde noch verkündet, dass diese App bald veröffentlicht wird. Dann kamen Corona, das 9-Euro-Ticket und jetzt das Deutschlandticket.
Verkehrsverbünde zusammenlegen?
Einigen Bundesländern und Verbünden ist durchaus klar, dass sich viel Geld sparen ließe, wenn die Zahl der vielen Verkehrsverbünde sinken würde. Allen voran HVV-Chef Anna-Theresa Korbutt, die schon vor knapp einem Jahr im NAHVERKEHR HAMBURG-Interview betonte: „Der Einspareffekt entsteht erst dann, wenn wir anfangen würden, Verkehrsverbünde zusammenzulegen. Weniger Verbünde, weniger Systeme, weniger Komplexität, die programmiert und verwaltet werden müssen. Da stecken die wahren Kostentreiber.“
Doch zu welchen Sparmaßnahmen wären die Stadt Hamburg und der HVV konkret bereit – jetzt, wo es wachsenden Druck von Bundesverkehrsminister Volker Wissing gibt? Wie groß ist der Verwaltungsapparat im Hamburger Verkehrsverbund überhaupt und worauf könnte man konkret verzichten? Gibt es schon konkrete Überlegungen, den HVV mit Nachbarverbünden, wie dem NAH.SH in Schleswig-Holstein zusammenzulegen? Kommt es vielleicht sogar zu einer Selbstauflösung des HVV?
Interview: Wird es den HVV in Zukunft noch geben?
NAHVERKEHR HAMBURG hat Hamburgs Verkehrssenator Anjes Tjarks und HVV-Chefin Anna Theresa Korbutt in zwei Kurzinterviews dazu befragt.
NAHVERKEHR HAMBURG: Herr Tjarks, Sind die vielen Verkehrsverbünde in Deutschland ein Anachronismus, der nur noch Geld kostet?
Anjes Tjarks: Der HVV ist ein sehr großer und sehr erfolgreicher Verkehrsverbund, an dem drei Bundesländer beteiligt sind, wodurch schon starke Synergieeffekte erzielt werden. Wir sehen keinen Bedarf für eine Neustrukturierung rund um Hamburg, für andere Bereiche Deutschlands mag das anders aussehen. Bei dem Thema Digitalisierung, beispielsweise in der App-Entwicklung, gibt es auch noch Optimierungsmöglichkeiten. Das kann durch eine bessere Zusammenarbeit über Verbundgrenzen hinaus noch effizienter geschehen.
NAHVERKEHR HAMBURG: Wie sehen Sie das mit Blick auf Hamburg? Brauchen wir den HVV in Zukunft noch?
Tjarks: Der HVV ist ein sehr erfolgreicher Verkehrsverbund und hat sich auch in der Zusammenarbeit mit Niede…
4 Antworten auf „„Flickenteppich der Verkehrsverbünde“ – wird der HVV jetzt aufgelöst?“
Sehr schöner, interessanter und wichtiger Artikel!
Aber ich würde mal einige der Zahlen hinterfragen. Zum Beispiel: “In den kommenden Jahren könnten die Kosten auf bis zu 12,7 Milliarden Euro ansteigen!“
Damit sind doch wohl der Unterschied im Gesamtzuschuss von 31 Milliarden € mit 49€-Ticket und 18,3 Milliarden € ohne gemeint? Dies wird aber doch nur benötigt um die durch das 49€-Ticket generierten zusätzlichen Fahrgäste zu befördern? Dass ÖPNV im allgemeinen ein Zuschussgeschäft ist ist doch nichts neues, und wenn es mehr Fahrgäste gibt kostet das halt mehr. Aber genau darum geht es doch, dass wird gemacht weil es sich gesamtwirtschaftlich sehr wohl lohnt!
Und das Wissing jetzt sagt dass er den Bundesanteil (nicht “seinen Anteil“…) nicht erhöhen werde halte ich für dummes Gerede – es ist doch seine Privatmeinung und nicht die Meinung der Bundesregierung. Ebenso dass die Fortführung des 49€-Tickets wie in der Quelle behauptet wird “ernsthaft gefährdet“ ist – das kann man genau so ernst nehmen wie gelegentliche Aussagen britischer Politiker das ‘free concessionary fares‘ (d.h. das alte und behinderte Personen in Gropßbritannien umsonst mit dem Bus fahren können) ‘reformiert‘ werden müsse – in der Praxis wird niemand wagen über 15 Millionen Leute ihre Fahrkarte wegzunehmen.
“Zwei Milliarden Euro würde nach seinen Worten allein der Ticketvertrieb im ÖPNV kosten. „Das muss sich ändern“.“ Wie Frau Korbutt schon andeutet, dass sind die Kosten für Fahrkartenauten – oder auch der Fahrkartenverkauf beim Busfahrer. Klar da kann man was sparen – aber dass die Zahl der Verkehrsverbünde bei den Vertriebskosten einen merkbaren Unterschied macht ist nun wirklich fake news!
Was auch total übersehen wird ist dass die Verbünde auch viele andere Arbeiten machen, unter anderem Fahrplanplanung. Ich stimme Herrn Jung voll zu dass die Kleinstverbünde zusammengelegt werden sollen – aber damit diese Arbeit besser gemacht wird, nicht billiger!
Die Frage zum Zusammenlegen von HVV und NAH.SH fand ich aber sehr schön. Tjarks und Korbutt haben sicher recht dass der HVV, so wie er zugeschnitten ist, für Hamburg schon ssinnvoll ist. Das Problem aber liegt nördlich vom HVV. Die jetzige HVV-Nordgrenze an den südlichen Stadtgrenzen von Lübeck und Neumünster ist problematisch – und ich würde mal sagen es gibt in SH auch keine bessere Linie. Nur deshalb muss der HVV bis zum Ellenbogen erweitert werden!
Es würde erst einmal schon viel bringen, wenn Lübeck (Hbf und die beiden Haltestellen Richtung Ratzeburg) und Neumünster bahnseitig “überlappend” auch im >hvv sind, sodass man auch mit >hvv Tickets die entsprechenden Knotenbahnhöfe erreichen kann. Busse und weiterführende Bahnstrecken können gern vorerst noch anderweitig bezahlt werden.
Aber da wird wohl wie bisher kein Weg ran führen.
Eine Neuordnung der Aufgabenträgerlandschaft sowie der Verkehrsverbünde ist überfällig. Aber den erfolgreichsten Verkehrsverbund zuerst aufzulösen ist suizidal. Man sollte die Verkehrsverbünde schnell vergrößern, sodass Einheiten wie der VBB – Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg entstehen. Also als Nahziel: nicht mehr als ein Verkehrsverbund pro Bundesland. Da wären zuerst die Bundesländer mit zahlreichen Kleisntverbünden (Bayern, BaWü, Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen) gefragt, wo FDP, CDU und Grüne mit in der politischen Verantwortung sind. Dann sollte in den verbleibenden Vekehrsverbünden die Ticketvielfalt reduziert und die IT-Systeme vereinheitlicht und die Marktingabteilungen, die irgendwelchen skurrilen Ticketsonderangebote vermarkten müssen, aufgelöst werden. Als nächstes müsste die hohe Vielfalt an Transportgefäßen im ÖPNV eingedampft werden. Ein bis zwei hoch standardisierte Straßenbahntypen, 3-4 verschiedene Bustypen und hochstandardisierte Fahrzeuge für den Eisenbahnnahverkehr sollten ein erhebliches Kostensenkungspotential freisetzen.
Wenn Herr Wissing nicht mehr Geld rausrücken will, dann müssen die Bundesländer mehr Druck machen. Aber da die Lädner sich hältig an den Kosten des 49 Euro Tickets beteiligen müssen, gibt es auch dort durchaus Bremser, denen das 49 Euro Ticket ein Dorn im Auge ist. Auch gäbe es auch reichlich Potential Gelder für den höchst überflüssigen Straßenneubau auf den ÖPNV umzulenken, ganz zu schweigen von den Geldern die derzeit in die Aufrüstung gesteckt werden.
Lieber Christian Hinkelmann, das waren richtig gute Interviewfragen. So muss Journalismus gehen!👍
Und die Antworten konnten eigentlich nicht besser sein und waren so, wie ich sie auch erwartet habe: bester, nein, schönster >hvv der Welt 🙄
Um einen Bezug zu meinem gestrigen Kommentar zum vorigen Artikel herzustellen: Beide übersehen die Chancen auf “Bahnsteigkarte bundesweit”. 🤣
Aber wenn auch erstmal ein kleiner gallischer Verkehrsverbund übrig bleiben sollte, irgendwann muss er sich entscheiden. Vielleicht zwischen dem “Wendischen Verkehrsverbund” östlich des Limes Saxoniae und dem “Sassischen Verkehrsverbund” westlich davon. Schließlich liegt ja neben anderen auch Wentorf im >hvv, dessen Ortsname übrigens nicht von “Villensiedlung im Speckgürtel” kommt, sondern von “Dorf der Wenden”.😉
(Zugegeben, das war jetzt etwas viel “>hvv Show” von mir, aber das musste mal sein.😃)