Viele Menschen in Armut können sich Fahrten mit dem HVV nicht leisten – trotz Sozialrabatt. Das hat eine neue Studie der Technischen Universität Hamburg ergeben (siehe hier).
Zwei Maßnahmen könnten diesen Zustand nachhaltig verbessern, meint Studienleiter Prof. Dr.-Ing. Carsten Gertz im Interview mit NAHVERKEHR HAMBURG und erklärt, was die Politik konkret tun müsste, warum das Fahrrad für Geringverdiener derzeit keine Alternative ist, wieso es eine bessere Carsharing-Strategie in der Stadt braucht und inwiefern das 9-Euro-Ticket eine Lösung für finanziell arme Menschen sein könnte.
NAHVERKEHR HAMBURG: Wie kann die Politik in Hamburg die Mobilität ärmerer Menschen verbessern?
Carsten Gertz: Die Betroffenen verfolgen unterschiedliche Strategien mit wenig Geld mobil zu sein. Alle schauen notgedrungen sehr auf die Fahrpreise, die im Vergleich zu anderen Großstädten hoch ausfallen oder mit starken Einschränkungen verbunden sind (siehe 1. Teil unseres Interviews).
Die naheliegende politische Maßnahme wäre, das Sozialticket unter die Lupe zu nehmen. Berlin etwa ist mit einem stadtweiten Ticket für 27,50 Euro ein gutes Beispiel. Für die Armuts-Betroffenen kann ein günstiges Sozialticket sehr viel bewegen. Die zweite Maßnahme wäre, den Hamburg-Takt weiterzuverfolgen, weil die von uns untersuchte Bevölkerungsgruppe davon sehr profitiert. Dazu gehört aber auch, den Zugang dieser Gruppe zu Mobilitätsangeboten wie ioki und MOIA in den Blick zu nehmen – auch durch bessere Informationen – und Kompetenzen zu vermitteln, etwa Fahrradfahrkurse anzubieten.
Die Hamburger Politik ist mit der Mobilitätswende auf einem recht guten Weg, aber diese ist relativ Infrastruktur-orientiert. Hamburg hat nach wie vor keine Tradition in organisatorischen Maßnahmen, das heißt im Mobilitätsmanagement – also dem Ansatz, für bestimmte Zielgruppen die richtigen Angebote zu machen. Beispielsweise für Schulen, Betriebe, Geflüchtete oder Touristen. In München kümmert sich ein Team von städtischen Mitarbeitern nur um die richtigen Angebote für bestimmte Personengruppen. Hier gibt es in Hamburg durchaus noch Potenzial, und das käme auch einkommensschwächeren Menschen in Hamburg zugute. Wir haben in Hamburg noch zu wenig Denken im Fördern von bestimmten Personengruppen – auch über die Gruppe der Geringverdiener hinaus.
Es geht darum, sich an den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer auszurichten und andere Akteure in die Mobilitätslösungen einzubeziehen. Zum Beispiel an Schulen, wo auf Elternabenden angeregt wird, die Kinder nicht mehr im „Elterntaxi“ vor die Tür zu chauffieren. In Hamburg ist der strategische Ansatz dahinter noch nicht stark genug. Die Metropolregion hat allerdings kürzlich mit der Behörde für Verkehr und Mobilitätswende ein Leitprojekt zum Mobilitätsmanagement gestartet.
NAHVERKEHR HAMBURG: Was leistet denn Mobilitätsmanagement idealerweise?
Gertz: Der Klassiker ist das betriebliche Mobilitätsmanagement: Die Kommune geht in örtliche Unternehmen und berät diese, wie sie die Mobilität ihrer Mitarbeitenden umweltfreundlicher gestalten können. Sie können etwa Jobtickets und Job-Räder anbieten, Fahrrad-Abstellplätze schaffen oder Dienstwagenfahrten durch Carsharing ersetzen. In Bezug auf Geflüchtete sind in München Mitarbeiterinnen in die Unterkünfte gegangen und haben sie in verschiedenen Sprachen beraten. Dort investiert die Stadt also in Personen, die vor Ort mit Bewohner-Initiativen eine Mobilitäts-Beratung leisten. Investitionen fließen also nicht in Beton, sondern in Köpfe, die dieses Beratungs-Knowhow haben.
NAHVERKEHR HAMBURG: Sollte also Hamburg auf eine neue U-Bahn verzichten und stattdessen ein günstigeres Sozialticket schaffen?
Gertz: Es ist kein Entweder-oder. Eine Schienenerschließung ist in Hamburg nach wie vor notwendig, wo es Lücken gibt. Darüber hinaus stellen wir fest, dass viele On-demand-Angebote vor allem dort angeboten werden, wo das ÖPNV-Angebot ohnehin sehr stark ist – also im innerstädtischen Bereich. Je weiter wir an den Stadtrand gehen, desto schwieriger wird es, alternative Mobilitätsangebote zu finden. Insofern bezieht sich die Angebotspolitik nicht nur auf die großen Infrastrukturmaßnahmen. Die hvv switch-Punkte sind ja schon ein guter Ansatz, aber Hamburg braucht auch eine sehr viel gezieltere Carsharing-Strategie. Das beforschen wir übrigens in einem weiteren Forschungsprojekt.
NAHVERKEHR HAMBURG: Ist das Fahrrad eine Alternative, we…
7 Antworten auf „„Das Fahrrad spielt im Alltag armer Menschen kaum eine Rolle““
Weshalb ärmere Menschen das Fahrrad wenig nutzen, dürfte auch stark damit zusammenhängen, dass die Wohnsituation dieser Menschen, i.d.R. Mietwohnungen in großen Mehrfamilien- oder Hochhäusern häufig keine oder nur schlechte und unsichere Fahrradabstellmöglichkeiten bieten. Wenn überhaupt, gibt es vor dem Haus nur ein paar schrottige Felgenbrecherständer (kein Schutz vor Vandalismus oder Diebstahl), oder höchstens einen zu kleinen Sammelraum im Keller, wo man das schwere (weil billige) Fahrrad ständig die Treppe schleppen muss.
Das macht die Fahrradnutzung im Alltag höchst unattraktiv.
Gutverdiener hingegen haben Gartenschuppen oder Garage oder nehmen ihr schickes (leichtes) Rad mit in die (große) Wohnung oder es ist für sie schlichtweg auch nicht so schlimm, wenn das Rad draußen gestohlen wird. Dann zahlt die Versicherung oder man kauft sich problemlos für 100€ eine neue Alltagsgurke.
Übrigens wurden bei uns in der Nachbarschaft bei mehreren Mehrfamilienhäusern vor kurzem auf deren Grundstücken gute, ebenerdige und durchaus einbruchsichere Fahrradhäuschen errichtet. Plötzlich sind viele der dortigen Bewohner regelmäßig auf dem Rad zu sehen.
„Mich treibt die Sorge um, dass Umsteigende enttäuscht werden, weil sie nicht die Qualität erleben, die sie erwarten, um vom Auto loszulassen.“
Mich nicht so sehr. Denn es gibt genug Studien die zeigen dass ÖPNV-Nutzer diesen wesentlich positiver Bewerten als Nichtnutzer.
Was in dem Interview fehlt, ist die Frage nach einer Langfristperspektive, wenn die Einmalaktion des 9 Euro-Tickets ausläuft. Hier wäre es wichtig für ein 365 Euro-Jahresticket für den jeweiligen Verkehrsverbund respektive Bundesland einzutreten und zusätzlich eine bundesweite Klimakarte für 5/Euro Tag, die auch zur Benutzung des Fernverkehrs berechtigt, zu fordern. Für Hartz IV-Empfänger müsste der Preis eines 365 Euro Tickets auf den für Mobilitätskosten veranschlagten Betrag im Regelsatz abgesenkt werden. Mit einer Flatrate-Fahrkarte für den Verkehrsverbund würde auch der z.T schwierige Kauf einer Fahrkarte am Automaten entfallen, der je nach Stadt und Fahrtziel teilweise eine intellktuelle Herausforderung darstellt. Die deutschen Nahverkehrsanbieter müssen sich endlich von dem grauenhaften Tarifwirrwarr mit Segmenten, Kreisen, Waben und Ringen usw. verabschieden und zu einem übersichtlichen und einheitlichen Tarifsystem, welches in seiner Struktur bundesweit gleich ist, kommen. Das wird noch viel Kraft kosten, das alte System zu überwinden und – bis auf Ausnahmen – nur noch Flatrate Fahrkarten anzubieten.
ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Eine 365 ticket sollte verpflichtend werden für den Großteil der Bevölkerung wie eine Gebühr. (welche Kriterien im Einzelnen angemessen sind, müßte man dann noch im Einzelnen untersuchen). Grundsätzlich möchte ich allerdings nicht, daß ein H4 oder Niedrigverdiener relativ weniger subventioniert wird als ein Normal- bzw. Gutverdiener. Was für einen Gutverdiener verpflichtend sein könnte, wäre für einen Geringverdiener freiwillig als eine Möglichkeit: Es käme also wirklich auf die entsprechenden Kriterien an.
Zusätzlich aber ist vor allem ein massives Investionsprogramm in den ÖPNV erforderlich so nach dem Motto 200 Mrd für 300km U/Stadt und S Bahnen in den nächsten 15 Jahren und mit einer Finanzierung auch des Betriebes im Wesentlichen durch den Bund.
Allerdings glaube ich nicht, daß man mit 5 EURO pro Tag den Fernverkehr noch halbwegs bewältigen kann. Dort könnte man die Bahncard 100 vielleicht etwas flexibler gestalten und mit einem Betrag von 365 pro Monat deckeln.
Der Vergleich mit Berlin in Sachen Sozialtarife stößt sauer auf. Berlin erhält als Bundesland mit weitem Abstand die höchsten Zahlungen aus dem Länderfinanzausgleich, insgesamt im letzten Jahr mehr als 4,3 Mrd. €. Wenn so ein Land dann als beispielgebend für seine Sozialleistungen hervorgehoben wird, müssen sich die Zahlerländer, also auch Hamburg, ziemlich veräppelt vorkommen. Berlin sollte erstmal dafür sorgen, finanziell weniger abhängig von anderen zu werden, bevor es seine Bürger mit üppigen Sozialleistungen verwöhnt. Zu Lasten Dritter zu leben ist zwar bequem, aber ganz sicher kein Vorbild.
Den LFA gibt es seit drei Jahren nicht mehr. Hamburg hat pro Kopf so oder so mehr Geld zur Verfügung. Alles eine Frage der Prioritäten.
Ein sehr schönes Interview, vielen Dank dafür!
Ich denke der soziale Aspekt wird in Zukunft eine größere Rolle spielen. Wenn Bier, Brot, Butter und Benzin im Laufe des Jahres sehr viel teurer werden, werden sich viele die tägliche Fahrt zur Arbeit gar nicht mehr leisten können oder wollen.
Ich lade daher im Anschluss an die Fahrradsternfahrt zu einer Besichtigung der sog. 2014er-Linie zwischen dem Flughafen und Norderstedt. Diese Linie wurde 2014 von den Grünen in HH-Nord und Norderstedt gemeinsam mit dem ADFC für einen Radschnellweg vorgeschlagen und eignet sich hervorragend für die Einrichtung eines Pop-up-Radwegs. Es ist dies die denkbar kürzeste Linie zwischen dem Flughafen und Norderstedt-Mitte und sie verläuft zu 95% durch schattige Grünzüge und stille Wohnstraßen. Der Umbau würde kaum Zeit in Anspruch nehmen, während der gepl. Radschnellweg auf dem ehem. Gütergleis neben der U1 nicht vor 2030 fertig sein wird*). Daher der Vorschlag: Pop-up-Radweg Flughafen – Norderstedt JETZT!
Mehr Info auf der Eingangsseite von http://www.rsw-nord.de – dort ganz nach unten scrollen.
*) lt. Auskunft von Dr. Engler vom Bezirksamt HH-Nord am 18.5. vor dem Radverkehrsbeirat Kreis Segeberg